Das Jahrhundertmagazin
Issue #1 – 2022

«Irgendwo muss der Abfall ja hin»,
sagt die Frau im Bachsermärt.
«Ausserdem leben wir dann eh schon lang nicht mehr», fügt ihr Mann hinzu.

Bachs im Zürcher Unterland ist ein pittoreskes Dorf mit vielen alten Fachwerkhäusern und Bauernhöfen in einer ebenso pittoresken, hügeligen Landschaft. Die Vögel zwitschern, die Sonne scheint, die Welt ist in Ordnung an diesem frühlingshaft warmen Märzmorgen. Einzig die tief fliegenden Flugzeuge auf dem Weg nach Kloten stören das Idyll ein bisschen. Und dann ist da noch eine seltsame, grosse, grüne Plastikwand mitten auf einer Wiese gleich vor dem Dorf. Dahinter liegt die Bohrstelle der Nagra – diese letzte Testbohrung soll Auskunft darüber geben, ob die Region Nördlich Lägern geeignet ist, um hier den radioaktiven Abfall der Schweiz tief in der Erde zu verbuddeln.

Die Idee ist absurd in ihrer Einfachheit. Wohin mit Abfällen, die bis zu einer Million Jahre lang gefährlich sind? Am liebsten hätte man sie einfach nicht mehr auf der Welt. Warum also nicht ins All schiessen? Erstens wären die Kosten astronomisch, zweitens geht erfahrungsgemäss öfter etwas schief bei Raketenstarts – mit Atommüll an Bord wäre so ein Unfall verheerend. Im Meer versenken? Hat man lange so gemacht. Würde sich der Müll gleichmässig verteilen, wäre er so stark verdünnt, dass es medizinisch vertretbar wäre – es zeigte sich allerdings, dass dem eben nicht so ist. Die Abfälle umwandeln oder noch weiter nutzbar machen? Die Umwandlung oder Transmutation verringert nur die Halbwertszeit, die bleibt aber immer noch in den Jahrhunderten. Die Nutzbarmachung ist technisch bisher noch nicht gelungen. Man hat ganz einfach keine bessere Idee, als den Ungewissheiten der Zukunft die Langeweile der Vergangenheit gegenüberzustellen. Dort unten, in über 500 Metern Tiefe, hat sich in den letzten 175 Millionen Jahren nichts verändert.

Das Gestein, das sich für ein Tiefenlager eignet, heisst Opalinuston:

Es ist schiefrig-bröselig, man kann kleine Stücke zwischen den Fingern zu einem feinen Pulver verreiben. Die wichtigsten Eigenschaften von Opalinuston sind seine Dichte und seine Quellfähigkeit, dadurch kann er Risse und Klüfte bei Wasserzutritt selber verschliessen und somit verhindern, dass radioaktive Teilchen austreten.

Im Bachsermärt, der Ur-Mutter der gleichnamigen Läden, in denen woke Stadzürcher:innen (und Eglisauer:innen) ihr Biogemüse kaufen, gibt man sich entspannt, was das Tiefenlager angeht. «Ach, wir sehen das pragmatisch», sagt eine ältere Frau, die mit ihrem Mann einkauft. «Irgendwo muss der Abfall ja hin – das wird man schon recht machen.» «Ausserdem leben wir dann eh schon lang nicht mehr», fügt der Mann hinzu, was sie schulterzuckend quittiert. Sie sind nicht die einzigen, die dieses Argument bringen.

Ein älterer Herr war schon an Infoveranstaltungen zum Thema und ist zum Schluss gekommen, dass das «wohl schon die beste Lösung sein wird», aber er würde sich wünschen, dass seine Tochter, die einen Reitstall betreibt, den Mist der Tiere «auch gleich in das Loch kippen könnte», anstatt jetzt grad für viel Geld alles neu zementieren lassen zu müssen. Man lacht. Eine Frau mit Kinderwagen sagt, sie hoffe schon sehr, dass das Tiefenlager nicht in der Lägern zu liegen komme, das mit der Strahlung mache ihr ein mulmiges Gefühl. Und eine andere gibt zu, sich noch nicht wirklich informiert zu haben, «aber meine intuitive Reaktion wäre: Lieber nicht hier.»

Hier sieht es aber gut aus, so viel kann man schon sagen. Alle drei Standorte, Jura Ost, Zürich Nordost und eben Nördlich Lägern kommen infrage. Im Herbst gibt die Nagra ihren Standortvorschlag bekannt, 2024 soll das Rahmenbewilligungsgesuch eingereicht werden, letztlich entscheidet der Bundesrat.

Gegen die Erteilung der Bewilligung kann das Referendum ergriffen werden – ansonsten hat das Volk nur Mitspracherecht, was die Lage der Oberflächenbauten und Kompensationsleistungen angeht. Eine Folge der Causa Wellenberg: In den Achtzigern scheiterte der Plan, im Kanton Nidwalden ein Lager für schwach bis mittelaktive Abfälle zu projektieren, am Widerstand der lokalen Bevölkerung. Konsequenz davon war, dass die nationale Kernenergiegesetzgebung revidiert wurde – das kantonale Vetorecht bei der Bewilligung eines geologischen Tiefenlagers wurde abgeschafft. Gemeinden, Kantone und die Bevölkerung sind aber herzlich eingeladen, die Standortwahl zu begleiten und ihre Anliegen an den Regionalkonferenzen einzubringen, die regionale Partizipation wird vom Bundesamt für Energie organisiert. 

Auch die Nagra tut das ihre, um den Menschen ein Gefühl der Teilhabe zu geben und Offenheit zu signalisieren. Dem eher abträglich ist die Vierfrucht-Blache, mit der die Container auf der Bohrstelle in Bachs eingekleidet sind – sie war allerdings Bedingung, weil die Region hier zu einem grossen Teil naturgeschützt ist. Offensichtlich sollte der Eingriff in die heile Welt wenigstens ästhetisch so niederschwellig wie möglich gestaltet werden.

Eine Besucherterrasse ist frei zugänglich, von ihr aus lässt sich beobachten, wie lange Bohrrohre im Boden verschwinden – und mit etwas Glück sogar, wie Millionen Jahre altes Gestein das Licht der Welt erblickt. Dann muss es allerdings schnell gehen, der Bohrkern wird sofort in eine Halterung gelegt und von mehreren Geolog:innen untersucht – bevor der Kontakt mit Licht und Sauerstoff seine Eigenschaften verändert. Im Besucherzentrum gibt es Gesteinsproben, informative Grafiken, Erklär-Tafeln und Give-Aways: Verschluss-Clips und ein Etui, das Zahlungskarten vor Datendiebstahl schützt. Zumachen und Strahlenschutz: Die Mission der Nagra in a nutshell.

Die Nagra, kurz für „Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle“ wurde 1972 von den Verursachern, sprich den Betreibern der Kernkraftwerke und dem Bund gegründet. Auch das Zwischenlager in Würenlingen Zwilag ist heute Genossenschafterin. Die Genossenschafter finanzieren die Nagra, indem sie jährlich in die Stilllegungs- und Entsorgungsfonds einzahlen, die unter Bundesaufsicht stehen – rund einen Rappen pro Kilowattstunde Kernenergie betragen die Gebühren für die Konsument:innen, damit die Kernkraftwerke stillgelegt und rückgebaut werden, für Transporte, Zwischenlagerung und zukünftige Tiefenlagerung der atomaren Abfälle und alle dazu nötigen Untersuchungen. 

Im Besucherzentrum
gibt es Give-Aways:
Verschluss-Clips und ein
Etui, das Zahlungskarten
vor Datendiebstahl
schützt. Zumachen
und Strahlenschutz:
Die Mission der Nagra
in a nutshell.

Nach den Protesten der Bevölkerung rund um das AKW Kaiseraugst in den 70er-Jahren entstand die Volksinitiative «zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen», was zu einer Revision des Atomgesetzes führte: Neue AKWs wurden fortan nur noch bewilligt, wenn die Betreiber die Entsorgung der radioaktiven Abfälle gewährleisten können – das Projekt «Gewähr» von 1978 war der Startschuss für das Projekt Tiefenlager. In den 80er- und 90er-Jahren verfolgte die Nagra das Ziel, im Wellenberg ein Endlager zu bauen – allerdings gegen den Willen der Nidwaldner Bevölkerung. Diese schmetterte das Vorhaben in zwei Volksentscheiden ab – mit der Folge, dass Bundesrat und Parlament im Kernenergiegesetz das kantonale Veto in ein fakultatives Referendum für die gesamte Schweiz umwandelte. So kam es, dass wir 2031 dem Rahmenbewilligungsgesuch zum Bau eines Tiefenlagers in der Region XY entweder zustimmen können werden oder eben nicht – doch dann stünden wir wieder bei Null und der radioaktive Abfall weiterhin mehr oder weniger zugänglich an der Erdoberfläche.

Die kompromisslose Verfolgung des Ziels im Fall Wellenberg jedenfalls kostete die Atomenergie und die Nagra massiv Vertrauenspunkte in der Bevölkerung – so sehr, dass der Bundesrat mit dem neuen Kernenergiegesetz von 2003 einen Sachplan anlegte, mithilfe dessen die Schweiz doch irgendwann zu einem Tiefenlager kommen soll. Er ist aufgeteilt in drei Etappen: Identifizierung von sechs möglichen Standorten durch die Nagra, Prüfung durch das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI. Etappe 2: Eingrenzung auf drei Standortgebiete. Etappe 3: Sondierbohrungen in den drei Regionen, 2022 Bekanntgabe der Standortwahl seitens der Nagra, Einreichung der Rahmenbewilligungsgesuche Ende 2024, Entscheid des Bundesrats 2029, dann äussert sich das Parlament und letztlich, falls ein Referendum ergriffen würde, stimmt das Volk ab ob Go oder No Go.

Marcos Buser, einer der prominentesten Kritiker des Projekts.

Mein Vorschlag wäre ein Zwischenschritt, also ein Langzeit-Zwischenlager.

Grundsätzlich No Go würde wohl nicht einmal Marcos Buser sagen, obwohl er als einer der prominentesten Kritiker des Projekts Tiefenlager gilt. Er ist ein grossgewachsener Mann von 73 Jahren mit leicht zerzaustem weissem Haar und sieht so aus, wie man sich einen klugen, lustigen, lieben Grossvater erträumen würde. Seine elf Enkel sind tatsächlich sehr präsent im Haus in Oerlikon, das er mit seiner Partnerin bewohnt: Überall versteckt sich Spielzeug, ein Dreirad aus Holz parkt in der Ecke, ein Tripp-Trapp-Kinderstuhl steht am Esstisch. Und dann sind da noch auffällig viele Fliegenpilze, in Form von Lampen oder Figuren. Was hat’s mit denen auf sich? Buser lacht: «Hab’ ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, die haben sich einfach angesammelt».

Vielleicht ist es ja eine unterbewusste Auseinandersetzung mit dem Thema Giftigkeit, schliesslich ist Marcos Buser seit über vierzig Jahren auf dem Gebiet der Entsorgung chemotoxischer und nuklearer Abfälle tätig. Er war Mitglied bei der EKRA- Expertenkommission für das Schweizer Endlagerprojekt und auch bei der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicherheit KNS. Der Geologe und Sozialwissenschaftler begann sich als Student für Umweltfragen allgemein und Kernenergie insbesondere zu interessieren, als 1972 der Club of Rome den Bericht «Die Grenzen des Wachstums» veröffentlichte.

Er wurde Anti-Atomkraft-Aktivist, protestierte in Kaiseraugst, Gösgen, Leibstadt – beschäftigte sich aber, im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter:innen, auch damals schon intensiv mit der Frage, wie man den Atommüll entsorgen könnte. So wurde ihm eine Rolle zuteil, die er als «bisweilen frustrierend und immer ungeschätzt» beschreibt: Die Atomkraftgegner:innen hielten beharrlich an der Vorstellung fest, es gebe keine sichere Entsorgung von radioaktiven Abfällen, die Befürworter:innen und die Industrie wollten nichts davon hören, dass ihre Vorstellungen einer Lösung überarbeitet und verbessert werden müssten.

Einer der prominentesten
Kritiker des Projekts:
Marcos Buser

Herr Buser, für mich klingt das eigentlich alles ganz gut: Wir haben nun mal den Atommüll, alle sind sich recht einig, dass es die beste Lösung ist, das Zeug zu vergraben, wir haben die Nagra, die sich um nichts anderes kümmert als darum, dass alles sicher ist. Warum sollte ich irgendein Problem mit diesem Projekt haben?

Es gibt verschiedene Antworten. Kurz gesagt: Das erste Problem ist, dass die Nagra eine Interessensorganisation ist. Sie ist der Atomkraft verpflichtet, nach dem Verursacherprinzip.

Das ist doch richtig, oder nicht? Dass die, die den Müll verursachen, ihn entsorgen sollen?

Nein, eben nicht. Dass der Verursacher bezahlen soll, das ist völlig klar. Aber die Planung, die Frage nach der Sicherheit – das muss von unabhängiger Stelle konzipiert werden. Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing – Langzeitrisikoprobleme gehören darum nicht in die Hände von Interessenorganisationen, sondern müssen unabhängig bearbeitet werden. Zweitens: Das Konzept der Endlagerung, also dass man die Abfälle einfach vergräbt, zumacht und dann ist fertig, das ist nicht mehr aktuell aus meiner Sicht. Es muss ersetzt werden durch ein Konzept, das die langfristige Überwachung und Begleitung eines solchen Lagers viel stärker in den Fokus nimmt. Wir müssen aus Fehlern lernen – ein gutes Beispiel ist unser bisheriger Umgang mit chemotoxischen Abfällen. Da muss jetzt so gut wie jede Anlage saniert werden; man lag falsch bei der Einschätzung, wie lange diese Abfälle auf diese Weise sicher gelagert sein würden. Und wir sollten daraus lernen: Es braucht ein auf lange Sicht ausgelegtes Monitoring.

Aber die Idee, dass man die Abfälle tief in der Erde lagert, die hat noch Bestand?

Ja, da gibt es keinen Dissens. Die Frage ist der Weg und der Zeitraum. Mein Vorschlag wäre ein Zwischenschritt, also ein Langzeit-Zwischenlager, das so gebaut ist, dass man die Abfälle auch wieder rausholen kann, wenn die Technik sich entwickelt hat, man zum Beispiel besser konditionieren, sprich die Abfälle verpacken kann. Das ganze unter ständiger Beobachtung, damit reagiert werden kann, wenn man in hundert, zweihundert Jahren merkt, dass es nicht so funktioniert, wie man sich das vorgestellt hat. 

Mit dem jetzigen Kenntnisstand ein Endlager zu bauen, das nicht mehr zugänglich ist, wäre ein Fehler?

Ja, je länger, je härter bin ich da in meinem Urteil. Es stimmt einfach nicht, dass wir genug darüber wissen, um das heutige Konzept so umzusetzen. Überwachen hingegen, das können wir. Ausserdem: es kommen ja noch Abfälle hinzu und die brauchen auch wieder dreissig, vierzig Jahre, bis sie genug abgekühlt sind, um sie in ein Tiefenlager zu bringen. Wenn dann eine Laufzeitverlängerung von Leibstadt oder Gösgen passiert, wie es aktuell diskutiert wird, dauert es gleich ein paar Jahrzehnte mehr. Man weiss auch nicht, ob es nicht doch plötzlich Reaktoren gibt, die die Abfälle als Brennstoff verwerten können – so unwahrscheinlich dies heute auch aussieht.

Ist das Ihr Hauptpunkt, dass es schwierig ist, Prognosen zu machen?

Genau. Sehen Sie: Zwischen einem Faustkeil und einer Steinaxt liegen zehn- oder hunderttausend Jahre technische Entwicklung. Zwischen einer Hermes Baby und einem Laptop ein paar Jahrzehnte. So schnell, wie sich die Technik und die Komplexitätszunahme momentan entwickeln, ist es einfach absurd, vorhersagen zu wollen, wo wir in hundert, geschweige denn einer Million Jahre stehen als Menschheit.

Was hat denn die Nagra davon, dieses Konzept weiterzuverfolgen, obwohl so viele Fragen offen sind?

Das hat historische Gründe: Man hat sich sowohl in der nuklearen Community wie auch in der Gesellschaft einfach auf diese Lösung geeinigt, seit sie vor vierzig Jahren von Schweden vorgestellt wurde. Inzwischen hat sich an vielen Orten gezeigt, dass es Probleme gibt damit. Zum Beispiel Morsleben in Deutschland – da hat man gemerkt, dass die Prognose für die Stabilität des Grubengebäudes nicht stimmte, es gab Wassereinflüsse. Die Grube wird jetzt saniert, aber ob das reicht, weiss man nicht. Dann kam 2008 das Bergwerk Asse, wo bekannt wurde, dass der Betreiber seit Jahrzehnten wusste, dass Wasser eindringt und das nicht gemeldet hat, was viele Fragen zur Führung und Transparenz solcher Anlagen aufgeworfen hat. Im gleichen Zeitraum passierte der Unfall in der Untertage-Deponie Stocamine für chemotoxische Abfälle im Elsass, wo ganz einfach Abfälle illegal eingelagert wurden. Ausserdem zeigte sich da, dass Endlagerung in Salz nicht sicher ist. 2014 gab es schwere Unfälle in den USA, wo Fässer explodiert sind, weil es eine Nachreaktion gab zwischen den Abfällen und der Konditionierungsmasse. Und noch viele, viele weitere Fälle.

Ich gehe aber schon davon aus, dass die Erkenntnisse aus diesen Fehlern von der Nagra berücksichtigt werden bei Bau und Betrieb eines Tiefenlagers, oder nicht?

Ja, davon bin ich überzeugt. Aber das Problem ist, dass nie das grosse Konzept hinterfragt wird, und die schlimmen Fehler sind immer konzeptueller Natur. Das andere grosse Problem ist die Abhängigkeit der Nagra von der Industrie.

Inwiefern?

Ein gutes Beispiel ist die Art, wie Forschungslaboratorien organisiert sind. Ich leitete über 14 Jahre die Begleitkommission des Labors Mont Terri, ein Felslabor im Jura, wo die Eigenschaften von Opalinuston untersucht werden. Dort gibt es einerseits die Regulatoren, also die Aufsichtsbehörden, und andererseits die Industrie, also eben die Nagras verschiedener Länder. Und die Schweizer Nagra wollte immer die Leitung dieses Forschungslaboratoriums, sprich, sie sass damit über denen, die als Aufsicht Forschung machten. Und Aufsicht von unten, in einer Struktur also, die von der Industrie geführt wird, das geht einfach nicht. In Mont Terri haben wir es mithilfe des Kantons geschafft, der Nagra die Führung des Labors wieder wegzunehmen – man muss sich das mal vorstellen, auch das Bundesamt für Energie wollte, dass die Nagra dort die Leitung hat. Die Rollen von Aufsicht und Zu- Beaufsichtigenden werden so völlig pervertiert. Aber Forschung und industrielle Interessen müssen absolut getrennt funktionieren. Wir brauchen eine völlig andere Kultur in der Forschung und in der Entwicklung, es muss Stimmen geben dürfen, die widersprechen, die Probleme spiegeln. Wissenschaft ist nie: Wir sind uns alle einig, jetzt können wir umsetzen und abkassieren.

Was würden Sie tun, um das Projekt in Bahnen zu lenken, die Ihnen mehr behagen würden?

Als erstes mit Axpo, BKW und Alpiq zusammensitzen und schauen, was man machen könnte, damit die Nagra einen anderen Status bekommt. Und dem Bund würde ich klarmachen, dass es in seiner Verantwortung liegt, dass das richtig gemacht wird. Das würde halt etwas kosten und Herr Maurer müsste Geld für die Zukunft zur Seite legen, was ihm wahrscheinlich nicht leichtfallen würde (lacht). Als zweites würde ich dem ENSI einen ganz anderen Auftrag geben: Sie müssten das strategische Setting der Entsorgung machen. Nicht die Nagra. Die Macht ist bei dem, der die Planung macht und wenn die Industrie die Planung macht, hinkt die Aufsicht immer hinterher. Die öffentliche Hand muss als Vertreterin der Interessen von uns und den zukünftigen Generationen die strategischen Entscheide fällen. Der Bund muss seine Verantwortung wahrnehmen. Dann würde ich die Leute mal arbeiten lassen und entlang der Erkenntnisse den weiteren Weg planen. Denn die Sicherheit hat allerhöchste Priorität. Ich muss allerdings auch sagen, dass die Nagra mit der neuen Leitung einen offeneren, transparenteren Kurs eingeschlagen hat und vermehrt auch wieder kritischen Stimmen zuhört.

Wie empfinden Sie den gesellschaftlichen Umgang mit der Thematik Tiefenlager?

Die Gesellschaft hat generell ein grosses Problem mit Abfall. Darum mag man sich nicht kümmern, auch die Behörden im Atombereich zeigen da wenig proaktives Verhalten. Gesellschaftlich diskutiert oder protestiert wird eigentlich erst, wenn es darum geht, dass lokal etwas umgesetzt wird oder wenn die Auswirkungen eines schlecht geplanten Projekts spürbar werden. Man nennt das auch das Nimby-Syndrom: Not in my backyard, der Rest ist mir aber egal. Ich kann das schon verstehen.

Wie kann man das verändern?

Indem der Diskurs mit den betroffenen Gemeinschaften noch stärker gesucht wird. Die Menschen müssen einbezogen werden in die Entscheidung, müssen Rechte bekommen, etwa ihre Expert:innen selber zu bestimmen, auch bei technischen Fragen mitreden zu dürfen, und sie müssen auch Verantwortung übernehmen. Die Risikofelder müssen eins nach dem anderen miteinander und transparent verhandelt werden.

Zu den Resultaten

Was sollte das wichtigste Entscheidungkriterium sein für die Wahl eines Standorts?

Repräsentative Meinungsumfragen
aus den Jahren:
  • 2009
  • 2015
  • 2021
Politische Akzeptanz
2009
2015
2021
9%
5%
13%











Sicherheit
2009
2015
2021
87%
93%
84%











Wirtschaftlichkeit
2009
2015
2021
4%
3%
2%











Barbara Franzen, FDP-Kantonsrätin, Präsidentin der FDP Bezirkspartei Dielsdorf und Mitglied der Regionalkonferenz Nördlich Lägern

Barbara Franzen, Mitglied
der Regionalkonferenz Nördlich Lägern:
«Es ist extrem ruhig in der Bevölkerung.»

Die Aufgabe, den Diskurs voranzutreiben, obliegt primär der Politik. Barbara Franzen, FDP-Kantonsrätin, Präsidentin der FDP Bezirkspartei Dielsdorf und Mitglied der Regionalkonferenz Nördlich Lägern, setzt sich nicht nur in dieser Funktion, sondern auch als Mitglied des Forums VERA (Verantwortung für die Entsorgung radioaktiver Abfälle) dafür ein, dass die Informationen fliessen und die Partizipation wahrgenommen wird. Mit durchmischtem Erfolg, wie die 57-jährige Unternehmerin erzählt.

Frau Franzen, wie empfinden Sie die Stimmung in Bezug auf das Tiefenlager in der Politik und generell in der Bevölkerung?

Bei Behördenvertreter:innen und Personen, die mit dem Prozess zu tun haben: sehr gelassen und sehr sachlich. Und in der Bevölkerung ist es extrem ruhig. Es ist für viele einfach kein Thema. Man versucht ja bei Gemeindeveranstaltungen die Leute zu involvieren, an Gemeindeversammlungen in Niederwenigen sagt die Gemeindepräsidentin am Schluss immer noch ein paar Worte zum Status dieses Projekts, aber da regt sich nicht viel. An einem Podium für die Kommunalwahlen hat jemand die Kandidierenden gefragt, wie sie zum Tiefenlager stehen – alle haben ganz pragmatisch geantwortet, «Sicherheit geht vor», «wenn es uns trifft, schauen wir weiter» – nur jemand meinte, Personen, die nicht gegen das Tiefenlager sind, seien nicht wählbar. Da geht es wohl aber mehr um eine generelle Ablehnung der Atomkraft. Aber die Allermeisten, würde ich sagen, wissen gar nicht so recht, worum es geht. 

Was aber nicht daran liegt, dass zu wenig Informationsmöglichkeiten angeboten werden?

Nein, definitiv nicht. Ich glaube, für viele ist das Thema zu abstrakt. Es ist ein zu langer Prozess, in welchem sich viele nicht recht verorten können. Wenn der Entscheid gefallen ist, wird es sicherlich für viele eine Überraschung sein. 

Wird die grosse Beteiligung erst kommen, wenn der Entscheid auf die «eigene» Region fällt?

Ich denke, dann wird das Interesse sich primär um die Oberflächeninfrastruktur drehen, beispielsweise die Oberflächenanlage und die Lüftungsschächte. Dinge, die man sich konkret vorstellen kann. Und dann wird es natürlich einige geben, die fragen: Na gut, aber was kriegen wir dafür?

Die Person an der Gemeindeversammlung, die gegen Atomkraft ist und deshalb auch gegen das Tiefenlager – warum kann man eigentlich nicht gleichzeitig gegen Atomkraft sein und doch dafür, dass die Abfälle sicher entsorgt werden?

Das hat historische Gründe und konnte erst mit der Energiestrategie 2050 gelöst werden. Vorher galt für Atomkraftgegner:innen das Narrativ: Zuerst müssen wir die Frage der Atomkraft lösen, sprich einen Verzicht beschliessen, dann können wir über die Entsorgungsfrage reden.

Haben Sie atomare Themen schon immer interessiert?

Nein, das kann man so nicht sagen. Aber meine Mutter ist Schaffhauserin, und jedes Mal, wenn wir durch Benken gefahren sind, habe ich diese Fässer, mit denen demonstriert wurde, gesehen. Und dann auch in der Tagesschau, wenn es in Deutschland um Proteste gegen die Castor-Transporte ging, das war schon eine gewisse Faszination. Aber dass ich mich jetzt damit beschäftige, hat natürlich vor allem damit zu tun, wo wir hier sind. Wäre ich in Uri, würden mich andere Themen umtreiben. Mich interessieren aber generell Sachplanverfahren, Raumplanung und partizipative Projekte.

Sie sind Mitglied beim Forum VERA, das bei Kritiker:innen als atomfreundlich gilt. Können Sie mir erklären, warum?

Na ja, wenn man schaut, was das für Mitglieder sind beim Forum VERA, dann sind das doch eher bürgerlich orientierte Politiker:innen. Aber von der Positionierung her hat das Forum VERA immer einfach gesagt, wir äussern uns nicht zur Zukunft der Atomkraft in der Schweiz, sondern wollen, dass das mit der Entsorgung gut gelöst wird. Wir sind der Meinung, unsere Generation muss dafür sorgen, dass die zukünftigen Generationen sich nicht darum kümmern müssen. Aber ich musste mir von einem Kantonsratskollegen auch schon anhören, ich würde von der Atomlobby bezahlt, weil die Nagra Mitglied ist bei VERA. (Lacht) Da musste ich dann sagen, hör mal, ich zahle einen Mitgliederbeitrag. Und ich könnte auch sagen, du bist von KLAR gesponsert. Das ist aber ganz normales politisches Hickhack. 

«Ich musste mir von einem Kantonsratskollegen auch schon anhören, ich würde von der Atomlobby bezahlt.»

Das Forum VERA organisiert Informationsanlässe für Lehrpersonal der Sekundarstufe und Sie sind auch Schulpräsidentin – gibt es Interesse bei den Jugendlichen für das Thema?

Nein, sehr wenig. Leider. Obwohl sie es ja sind, die dereinst wichtige Entscheidungen treffen werden müssen. Wir können nur weiterhin versuchen, Awareness zu schaffen, ihnen die Prozesse näherzubringen.

Sie sind ja Kunsthistorikerin – könnten Ideen zur Semiotik, um die Menschen der Zukunft vor dem vergrabenen Atommüll zu warnen, auch aus der Ecke kommen?

Das ist ein sehr spannendes Thema. Die Frage nach der universellen Sprache der Zukunft. Man ist da relativ schnell bei Piktogrammen, die Wahrscheinlichkeit, dass die noch weit in die Zukunft der Menschheit gedeutet werden können, ist gross. Auch das übrigens ist doch ein hervorragender Einstieg, um das Thema in Schulen zu behandeln!

Während die Nagra betont, dass alle Standorte sich eignen würden, munkelt man überall, die Wahl sei längst getroffen – nämlich in ihrer Region. So auch im Zürcher Weinland, also Zürich Nordost: Sie müssten in den sauren Apfel beissen, das sei längst klar; und im Gegensatz zur Ruhe in Nördlich Lägern ist hier der Widerstand relativ gross. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Das Weinland hat regelmässig für Atomkraft und gegen Umweltvorlagen gestimmt. Bei einer Infoveranstaltung des Bundes in Rheinau 2015 fuhr eine Interessengemeinschaft aus Bauern der Region mit rund zwanzig Traktoren vor das Mehrzweckgebäude, in dem der Anlass stattfand, um laut hupend ihren Protest kundzutun. 2018 wurde ein Hinkelstein platziert als Mahnmal gegen ein Endlager in Zürich Nordost, jeden Donnerstag zwischen 17 und 18 Uhr finden Mahnwachen statt. Initiant und Präsident der Ländlichen Interessengemeinschaft kein Endlager (Like) im Weinland ist Jürg Rasi. Er bewirtschaftet den Aktivstall Isehof und befürchtet, dass radioaktiver Abfall im Untergrund den landwirtschaftlichen Produkten aus der Region einen schweren Imageschaden bereiten würden, ausserdem sei damit das Grundwasser der ganzen Region aufs Spiel gesetzt. Weil er für diese Publikation nicht zu einem Gespräch bereit war, konfrontiere ich den CEO der Nagra, Matthias Braun auf diesem Wege mit Rasis Vorwürfen.

Zu den Resultaten

Welchem Ort würden Sie für den Bau eines Endlagers zustimmen?

Repräsentative Meinungsumfragen
aus den Jahren:
  • 2018
  • 2021
Wohngemeinde
Wohnkanton
2018
2021
2018
2021
25%
37%
50%
60%











Schweiz
Europa
2018
2021
2018
2021
71%
80%
53%
35%











Matthias Braun, CEO der Nagra.

Matthias Braun, CEO der Nagra:
«Probleme gut zu lösen, ist doch eine tolle Aufgabe.»

Matthias Braun ist seit 2021 im Amt und mit diesem Job das erste Mal seit seinem Geologie-Studium an der Universität Basel wieder in der Schweiz tätig und ansässig. Nach dem Doktorat arbeitete er für internationale Erdölfirmen, vor allem im Mittleren Osten und in den ehemaligen Sowjetrepubliken, längere Zeit auch in Syrien, Holland, Italien und Grossbritannien. «Zurückzukommen hat mich gereizt, denn das ist ja der grösste Kulturschock, den man haben kann», sagt der 54-Jährige. «Ich habe es geliebt, Ausländer zu sein: Alles Gute nimmt man mit, bei den schlechten Sachen kann man sich drüber mokieren.» Vor allem die Freundlichkeit hier habe ihn überrascht, erzählt er, dass alle Grüezi sagen auf der Strasse – das war er sich von seinem vorherigen Wohnort London nicht mehr gewohnt. «Der grösste Unterschied ist allerdings die Arbeitsweise», sagt er. «Bei allem wird sofort ein Protokoll geschrieben, es gibt Aktennotizen, alles ist sehr prozessorientiert. Im arabischen Raum reicht es oft auch, sich die Hand zu geben und dann gilt etwas. Hier ist alles sehr förmlich. In der Firma habe ich das an einer sehr starren Hierarchie gemerkt, es braucht viel Effort, um die aufzubrechen.»

Herr Braun, was hat Sie dazu bewogen, diesen auf allen Ebenen schwierigen Job anzunehmen?

Oh, es waren eigentlich ganze viele Dinge, die mich gereizt haben. Zum Beispiel, mal die Gesamtverantwortung für eine Firma zu haben, vom Menüplan in der Mensa bis zur technischen Umsetzung einer heissen Zelle. Allem voran stand aber wohl, dass es ein Pionierprojekt ist: Wir machen hier etwas, das noch nie jemand vor uns gemacht hat. Das ist ein geniales Gefühl.

Hat es Sie nicht abgeschreckt, dass Ihr Job darin besteht, Altlasten von anderen loszuwerden? 

Ich finde, Probleme gut zu lösen, ist doch eine tolle Aufgabe. Die Schweiz will ein Tiefenlager, weil das die beste Lösung ist. Wir setzen alles daran, diesen Auftrag so gut wie irgendwie möglich umzusetzen.

Sie leiten ein Projekt, das Sie nicht bis zum Ende betreuen werden – wie fühlt sich das an? 

Bei grossen Projekten ist das ja öfter so. Mein Anspruch ist aber durchaus, dass ich mal noch in diesem neuen Felslabor stehen werde.

Wie gehen Sie mit der Verantwortung um? Wenn in diesem Projekt etwas schiefgeht, hat das übelste Konsequenzen. Macht das auch Angst?

Dabei hilft mir sehr, dass ich mich auf viele sehr kompetente Mitarbeiter:innen verlassen kann. Menschen, die sich teils schon seit Jahrzehnten mit diesem Projekt beschäftigen. Sprich, was wissenschaftliche Fakten angeht, da fühle ich mich sehr sicher. Der Rest sind sozioökonomische Aspekte und dort operiere ich nach dem Modell Common Sense. Damit bin ich bisher sehr gut gefahren.

«Wir haben weniger Vertrauen in die Menschheit als in die Natur, beziehungsweise in die geologischen Gegebenheiten.»

Matthias Braun, CEO Nagra

Wie gehen Sie mit den Ängsten anderer um? Haben Sie da eine gewisse Distanz aufgebaut?

Nein, gar nicht. Solche Sorgen werden auch oft an mich herangetragen und ich nehme die sehr ernst. Und obwohl ich viele Ängste nicht nachvollziehen kann – ich bin Naturwissenschaftler, ich orientiere mich an den Fakten – kann ich die Ängste oft verstehen und bringe den betroffenen Menschen alle Sympathie entgegen. Einige der Ängste kann man durch Gespräche und Fakten entkräften, andere nicht.

Wie ist es, eine Firma zu übernehmen, die selber einige Altlasten hat, der Filz vorgeworfen wurde und die bei einigen Teilen der Bevölkerung nicht viel Vertrauen geniesst?

Ich bin auch schon mit Vorwürfen aus der Vergangenheit konfrontiert worden, wo ich dachte: Wenn das stimmt, ist das bedenklich. Ich kann das nicht alles beurteilen, ich bin erst seit einem Jahr bei der Nagra. Ich kann versprechen, dass es in Zukunft keinen Filz geben wird. Von wegen Filz muss man sich aber schon mal vor Augen halten: Es sind letztlich nicht besonders viele Menschen auf dieser Welt, die sich mit dem Thema befassen – bei den Projektant:innen ebenso wie auf der Kritiker:innenseite. Wir laufen uns alle schon seit Jahrzehnten immer wieder über den Weg – aber alle sind sich den Regeln und Verpflichtungen ihrer Rolle sehr bewusst und halten sich daran. Von Filz kann keine Rede sein.

Herr Buser ist aber vor allem der Meinung, die Nagra sei nicht so sehr die zu beaufsichtigende Instanz, wie sie es sein sollte, sondern versuche, bei diesem Projekt die Leitung an sich zu reissen – was ihr gelinge wegen des Filzes in den Behörden. Die Leitung müsste seines Erachtens die öffentliche Hand haben.

Da muss ich als erstes ‘mal festhalten, dass ich persönlich selten auf der Welt ein Projekt gesehen habe, das der Staat besser macht als private Firmen. Dass wir eine privatrechtlich organisierte Firma sind, gibt uns eine gewisse Dynamik, eine gewisse Zielgerichtetheit – na gut, das klingt etwas komisch, immerhin sind wir seit fünfzig Jahren dran (lacht). Vor allem aber: Das ENSI hat die Aufsicht, das BFE führt die Standortsuche, wenn da noch mal eine Behörde die Ausführung machen würde – wer würde dann wen leiten?

Herr Buser meint: Heute zumindest nicht das ENSI die Nagra. 

Das nehmen wir intern natürlich ganz anders wahr. Für uns ist die Aufsicht ganz klar die Aufsicht – unter uns, wir hätten gern manchmal etwas mehr Freiheit (lacht). Ich glaube, es gibt niemand in der Nagra, die oder der sagt «wir stehen über dem ENSI». Das ENSI schaut uns ganz genau auf die Finger und das ist gut so.

Der andere grosse Punkt von Marcos Buser ist, dass er es für falsch hält, ein Endlager zu projektieren. Er wäre für ein langzeit-beobachtetes Zwischenlager.

Ja, das ist wirklich interessant. Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit ein Gespräch mit Herrn Buser, und das ist wirklich der einzige Punkt, wo wir uns nicht einig sind. Aber letztlich: Ob dieses Tiefenlager in hundert Jahren verschlossen wird oder nicht, müssen einige Generationen nach uns entscheiden. Wir planen das Ganze jetzt mal so, dass es auch verschlossen werden kann – ob es passiert, ist eine andere Frage.

Warum halten Sie trotzdem daran fest, dass es idealerweise verschlossen wird im Jahr 2125?

Weil wir weniger Vertrauen in die Menschheit haben als in die Natur, beziehungsweise in die geologischen Gegebenheiten. Ein Lager, das offen ist und von Menschen betreut wird, ist nur solange sicher, wie die Gesellschaft stabil ist. Ist sie das nicht, ist es sehr viel sicherer, wenn es verschlossen ist. Ausserdem möchten wir den zukünftigen Generationen diese Betreuungsaufgabe nicht auferlegen, sondern ihnen eine Situation hinterlassen, in der sie sich nicht darum kümmern muss. Was momentan in der Ukraine passiert, bestärkt mich nur darin, dass es schlauer ist, radioaktive Abfälle sehr, sehr schwer zugänglich tief in der Erde zu lagern.

Als Geologe sind Sie eigentlich ja eher in der Vergangenheit zuhause. Wie ist es für Sie, so in die Zukunft zu arbeiten? 

Nun, wenn man die Vergangenheit kennt, kann man ja tatsächlich besser in die Zukunft prognostizieren. Vor allem, wenn die Zukunft, um die es geht, ein vergleichsweise kleiner Teil ist von der Vergangenheit – die geologische Geschichte der Nordschweiz kennen wir über die letzten 200 Millionen Jahre sehr genau, und wir müssen eine Million Jahre in die Zukunft schauen.

Für Sie ist das eine kurze Zeit. 

Ja, absolut. Diese geologischen Prozesse sind – im Gegensatz zu gesellschaftlichen Prozessen – durchaus voraussagbar. Ausserdem ist das Prognostizieren für Geolog:innen täglich Brot – allerdings ausgehend von der Vergangenheit und das Ganze wird dann mit Daten aus der jüngeren Vergangenheit oder der Gegenwart abgeglichen. Aber es geht immer darum, zeitliche Informationslücken zu füllen.

Wie sieht es aus mit dem Kontrast «Zeit schinden und neue Erkenntnisse abwarten» versus «keine Zeit verstreichen lassen und das Tiefenlager so schnell wie möglich bauen»?

Wir versuchen beides zu integrieren. Einerseits ist es Konsens, dass der Abfall unter der Erdoberfläche am sichersten aufgehoben ist, deshalb wollen wir vorwärts machen – nicht umsonst wird das ja auch vom Gesetz so verlangt. Andererseits ist es unerlässlich, in dieses Projekt ständig neue Erkenntnisse aufzunehmen. Deshalb auch diese gestaffelte Form: Zuerst eine Rahmenbewilligung – in der wird nur wenig festgelegt ausser dem Standort und den Grundzügen des Lagers. Dann eine Baubewilligung. Und so weiter, immer detaillierter. Genau zu diesem Zweck: Damit wir die Erkenntnisse der nächsten Jahre, Jahrzehnte integrieren können. Überlegen Sie sich mal, wie zum Beispiel der Flughafen vor zwanzig Jahren noch funktioniert hat: Da wurden die Koffer noch von Hand auf die Förderbänder gelegt, nachdem das Zettelchen studiert worden ist. Heute ist das alles vollautomatisch. Gerade die Logistik macht so rasante Fortschritte momentan, deshalb dürfen wir da auf keinen Fall Dinge festlegen, die in zwanzig Jahren schon total veraltet sind. Das Lager wäre zwar nach dem heutigen Konzept absolut sicher, aber warum sollten wir uns viele Jahre Entwicklung entgehen lassen?

Auch Learnings aus Fehlern müssen einfliessen. 

Absolut, wir sind in ständigem Kontakt mit unseren Partnerorganisationen, wir lernen von Ländern, die schon viel weiter sind wie etwa Finnland oder Frankreich. Das geht weit über das Technische hinaus, bis hin zu organisatorischen oder institutionellen Fragen. Dazu kommen aber auch Bereiche wie Tunnel- oder Schachtbauten, von denen wir ebenfalls lernen können. Asse und Morsleben etwa haben gezeigt, dass man den Abfall nicht einfach in alten Bergwerken entsorgen kann – diesen Fehler werden wir nicht wiederholen.

Wie sieht es aus mit den Learnings aus eigenen Fehlern? 

Auch die sind natürlich essentiell. Gerade beim Beispiel Wellenberg lohnt es sich, genau aufzuarbeiten und hinzuschauen, was da alles falsch gelaufen ist, wie man es besser machen könnte. Da haben wir sehr viel gelernt daraus, vor allem, was die Kommunikation mit der Bevölkerung und den Behörden angeht.

Ich möchte Sie mit ein paar Vorwürfen konfrontieren, die der Nagra gemacht werden von Kritikern: Etwa, dass sie Gelder für Propaganda missbrauche, etwa indem sie dem Forum VERA 200’000 Franken pro Jahr spende. 

Nun ja, das stimmt natürlich, ist ja auch in unserem Geschäftsbericht einsehbar. Das Forum VERA ist allerdings weder pro- noch anti-Atomkraft, sondern an der Vermittlung zwischen den Fronten interessiert. Wir unterstützen Organisationen, die die Diskussion voranbringen, weil das wichtig ist für uns. Wir stehen dazu.

Ein weiterer Vorwurf: Es sei nicht sicher, dass das Grundwasser nicht in Mitleidenschaft gezogen werde durch den Bau eines Tiefenlagers.

Diese Menschen scheinen zu vergessen, dass das genau genommen unser wichtigstes, oberstes Ziel ist: Zu verhindern, dass das Grundwasser verseucht wird. Dafür gibt es uns überhaupt. Da überschneiden sich unsere Interessen also zu hundert Prozent. Wir sind überzeugt, dass ein Tiefenlager das Grundwasser nicht gefährdet – und die Behörden sehen das gleich. Auf unserer Website legen wir all unsere Forschung ausführlich dar. Klar, hundertprozentige Sicherheit haben wir nicht. Wer das verspricht, arbeitet nicht wissenschaftlich. Aber wir kommen wirklich nahe ran an die hundert Prozent.

Eine gewisse Resistenz gegen wissenschaftliche Erkenntnisse zeigte sich in jüngster Zeit ja auch am Beispiel der Corona-Skeptiker. Wie kann man solche Menschen überzeugen?

Man kann nur noch transparenter und noch offener sein. Noch mehr das Gespräch anbieten und Informationen offenlegen. Und auch ehrlich sein mit sich selber: Die letzten zehn Prozent der Bevölkerung wird man einfach nicht überzeugen können. Aber wir schätzen es immer, mit Kritik konfrontiert zu werden, es macht uns und das Projekt ganz einfach besser.

Es gibt auch den Vorwurf, die Nagra sei nicht der Sicherheit, sondern der Atomlobby verpflichtet. 

Dagegen sprechen zwei Argumente. Erstens überwacht das ENSI unsere Arbeit ganz genau. Nicht die Genossenschafter entscheiden, ob etwas sicher ist, sondern die Behörden. Zweitens: Unsere Genossenschafter sind nicht irgendwelche Firmen. Die Energiekonzerne gehören grösstenteils der öffentlichen Hand. Die Nagra entsorgt den Atommüll der Schweiz, nicht den Müll irgendwelcher bösen Konzerne. Das heisst: Wir sind wir der Schweiz verpflichtet – und zwar in Sachen Sicherheit wie auch in Sachen Kosten. Und die Nagra ist energiepolitisch neutral.

Wie empfinden Sie die Stimmung in der Gesellschaft? 

Das Ganze läuft schon sehr lange und eine gewisse Müdigkeit ist sicher feststellbar. Aber ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen bei den Regionalkonferenzen sind – an einem Samstagnachmittag, bei schönem Wetter sitzen die in einem geschlossenen Raum und betreiben basisdemokratische Partizipation. Das ist unglaublich toll. Und wohl auch nur in der Schweiz so möglich.

Zu den Resultaten

Welche Aussage würde beim Bau eines Endlagers am ehesten mit Ihrer persönlichen Reaktion übereinstimmen?

Repräsentative Meinungsumfragen
aus den Jahren:
  • 2009
  • 2015
  • 2021
Aktiv gegen ein Lager
2009
2015
2021
15%
12%
12%











Keine Sorge und für ein Lager
2009
2015
2021
23%
22%
30%











Ungutes Gefühl und gegen ein Lager
2009
2015
2021
23%
17%
14%











Ungutes Gefühl, aber akzeptieren eines Lagers
2009
2015
2021
39%
49%
42%











Bei einer Regionalkonferenz in Würenlingen würde es nicht viel zu diskutieren geben, sagt ein Anwohner im Shoppingcenter Aarepark. «Bei uns könnten sie das Ding morgen bauen, niemand würde sich wehren», sagt er. Warum? «Wir haben das Zwilag hier seit, was, zwanzig Jahren? Alles ist okay, niemanden interessiert es. Ausserdem: Wenn etwas passiert, dann kann das auch in einem grenznahen AKW in Frankreich oder in Deutschland sein und wir haben alle ein Riesenproblem.» Eine ältere Frau erinnert sich, dass es durchaus Widerstand gab, als das Zwilag geplant wurde in den 90er-Jahren, aber sie habe sich nie beteiligt daran. Sie habe immer Vertrauen gehabt, dass das schon gut gemacht werde und ausserdem: «Irgendwo müssen wir die Abfälle ja hintun! Wo kommen wir denn hin, wenn jeder sagt: Aber bitte nicht bei mir!»

Keine Ahnung, wie ich mir die Anfahrt zu einem so gefährlichen Ort vorgestellt habe, aber definitiv spektakulärer als das hier: Das Zwilag sieht aus wie jede andere Firma in einem Industriegebiet in der Schweiz. Hier könnten genauso gut Duschköpfe hergestellt werden. Was man vom Zwilag sieht, ist ein rotes Backsteingebäude, daran schliesst eine grosse Halle an. Auffällig sind nur die vielen Überwachungskameras und Zäune und Abschrankungen. Erst, wenn man mal drin ist, zeigt sich, dass man es hier durchaus etwas genauer nimmt mit den Formalitäten: Badge-Leser, Handscanner, Gesichtsscanner und verschlossene Türen überall.

Geschäftsführer Ronald Rieck

Der Geschäftsführer Ronald Rieck himself nimmt sich Zeit, uns herumzuführen. Auf der Dachterrasse zeigt er, was man von vorne nicht sah: Das Zwilag besteht aus insgesamt sechs U-förmig angelegten Gebäuden. Das kleinste davon ist auch das Speziellste: Dort drin befindet sich der Plasmaofen. Bei bis zu 5000 Grad werden dort zwei Mal im Jahr während rund drei Monaten radioaktive Abfälle mit Glas verschmolzen – dadurch werden sie nicht weniger radioaktiv, aber ihr Volumen wird reduziert und sie werden in eine lagerfähige Form gebracht.

Ich habe 2 Mikrosievert radioaktive Strahlung abbekommen. «Das ist so viel wie ein halbstündiger Spaziergang im Wallis», sagt Ronald Rieck.

Einzigartig auf der Welt, sagt Rieck mit einigem Stolz. Warum nur die Schweiz so einen hat? «Was unterscheidet die Schweiz von den meisten anderen Ländern?», fragt Rieck zurück. Ach so. Wir lassen uns unsere Sicherheit halt etwas mehr kosten als andere.

Dann geht es ab in den Untergrund. Wobei – wahrscheinlich ist es gar nicht der Untergrund, aber ohne Fenster fühlt sich alles nach Kaverne an. Wir ziehen uns um: ein weisser Arbeitsmantel, Helm, Brille, Socken in, man möchte sagen: radioactive green, weisse Gummischuhe. Vor und nach dem Besuch wird man auf Strahlung gescannt, ein Personendosimeter, eine Art Pager, der an den Kittel geclippt wird, misst zusätzlich live, wieviel Strahlung man ausgesetzt ist. Die Gänge sind sauber wie in einem Krankenhaus, es ist still und menschenleer, rote Linien weisen den Wägelchen, die den Abfall in Fässern vollautomatisch transportieren, den Weg. Momentan natürlich nicht. Zwischen den Hallen liegen Schleusen mit tresorartigen Türen, per Kamera wird kontrolliert, ob tatsächlich so viele Menschen wie angemeldet anwesend sind und überhaupt, ob es allen gut geht, sprich dass keine Unannehmlichkeiten vorliegen.

Das Farbkonzept im Zwilag ist umwerfend. Jeder Raum ist anders gehalten, pastellige Töne treffen auf starke, leuchtende Nuancen. Vanille und Violett, Himbeere und das Blau eines nebligen Morgens. Es ist bunt, aber ernsthaft. «Stellen Sie sich mal vor, wie es wäre, hier zu arbeiten, wenn alles grau wäre. Schrecklich», sagt Ronald Rieck. Wir werden noch ein paar Mal gescannt, noch ein paar Mal öffnen Handabdrücke schwere Türen, und dann sind wir im Behältergebäude. So unspektakulär heisst die riesige Halle, in der das aufbewahrt wird, um das es hier geht: Die Behälter mit dem radioaktiven Abfall der Schweiz (minus ein paar, die noch bei den AKWs stehen) in verschiedenen Stadien des Zerfalls.

Es sind 70 Container, jeder etwa 130 Tonnen schwer, 200 haben hier Platz. Einige sind vom Typ Castor, andere von anderen Herstellern, das Prinzip ist immer dasselbe: ein dreissig bis vierzig Zentimeter dicker Grundkörper aus Gusseisen mit Kugelgraphit, innen vernickelt. Je nach Bauart sind in die Wandung Längsbohrungen mit Stangen aus Polyethylen eingebracht, um die Neutronenabschirmung zu verbessern. Einige sind aussen gerippt, andere glatt, «und jetzt vergleichen Sie mal die Temperatur», fordert mich Herr Rieck auf. Die gerippten sind weniger warm als die glatten. «Reine Physik», sagt er. Klar, grössere Oberfläche gleich bessere Verteilung der Wärme.

Es ist ein seltsames Gefühl, diese Wärme zu spüren. Sie kommt nicht von so etwas alltäglich-Bekanntem wie Feuer oder Elektrizität, sondern von Radionukliden, die ihre Energie an die Umwelt abgeben. Nur dreissig bis vierzig Zentimeter trennen mich von einer Verstrahlung. Mein Personendosimeter piept. Am Ende des Besuchs wird sich zeigen, dass ich 2 Mikrosievert radioaktive Strahlung abbekommen habe. «Das ist so viel wie ein halbstündiger Spaziergang im Wallis», erklärt Rieck – denn die Strahlenbelastung aus dem All nimmt zu, je höher man in den Bergen ist.

Generell sind wir ständig und überall ionisierender Strahlung ausgesetzt, wir strahlen sogar selber – 85 Prozent der uns umgebenden Radioaktivität sind natürlichen Ursprungs, 14 Prozent entspringen medizinischen Anwendungen und nicht einmal 1 Prozent sind sonstigen technischen Ursachen zuzurechnen. Um die Grössenordnungen besser fassbar zu machen ein paar Beispiele von Mikro- (0,000001) über Millisievert (0,001 Sievert) bis Sievert: Jährlich kriegt jeder Mensch in der Schweiz rund 5 Millisievert ab – die zusätzliche Strahlung des Tiefenlagers, die pro Jahr auf einen Menschen, der direkt darüber wohnt, einwirkt, darf laut Gesetz bei maximal 0.1 Millisievert liegen – man rechnet allerdings damit, dass sie 0.0001 Millisievert nicht überschreiten wird.

Eine Röntgenaufnahme des Gebisses bedeutet etwa 10 Mikrosievert, ein Jahr neben jemandem schlafen etwa 20 Mikrosievert, ein Flug nach New York etwa 55 Mikrosievert. 20 Millisievert beträgt die Grenze der jährlichen Strahlung für Mitarbeitende des Zwilag. Ab 250 Millisievert sind erste klinische Strahleneffekte im Blutbild erkennbar. 1 bis 6 Sievert führen nach einigen Stunden zu Übelkeit und Erbrechen, eventuell Haarausfall, die Überlebenschancen sind noch gut. Ab 15 Sievert bestehen kaum Überlebenschancen, bei mehr als 20 Sievert kommt es praktisch sofort zum Versagen des zentralen Nervensystems und des Herz-Kreislauf-Systems mit Schock, Krämpfen und Bewusstlosigkeit. Nach spätestens zwei Tagen tritt der Tod ein.

Autorin Annette Hug ist fasziniert an dem Thema

«Die Idee eines Ordens
hat mich nicht mehr losgelassen»:
Annette Hug, Autorin

Das Unheimliche an Strahlung ist, dass sie weder hör-, riech-, noch sichtbar ist. Wenn Radionuklide austreten und etwa ins Grundwasser gelangen, würden Bauern nicht plötzlich grün leuchtende Rüebli aus dem Boden ziehen. Unter anderem ist es auch das, was die Autorin Annette Hug so fasziniert hat an dem Thema, dass sie einen Roman darüber geschrieben hat. «Tiefenlager» ist 2021 im Verlag Das Wunderhorn erschienen und handelt von der Frage, wie man die Nachwelt darüber informieren kann, dass dort im Boden hochgefährliche Abfälle vergraben sind. Die Idee des Ordens – neben verschiedensten Arten von Mahnmalen oder etwa genetisch veränderten Katzen, die ihre Farbe verändern, wenn sie in Kontakt mit Strahlung kommen – taucht in der Diskussion immer wieder auf.

Es ist ja naheliegend – welches sind die ältesten Institutionen der Menschheit? Kloster. «Wobei gesagt werden muss, dass auch die ältesten unter ihnen wie die der Benediktiner oder der Shaolin-Mönche Chinas erst seit rund 1500 Jahren bestehen – was bei den Zeiträumen, um die es in diesem Projekt geht, geradezu lächerlich kurz ist», sagt Annette Hug. Aber trotzdem: Orden tradieren Wissen auf ritualisierte und institutionalisierte Art, was sich als relativ nachhaltige Strategie gegen den Zahn der Zeit erwiesen hat.

Im Roman bilden fünf Aussteiger:innen den Kern der «Arbeitsgruppe Transtemporaler Kompetenzerhalt»: eine Finanzberaterin, eine Krankenpflegerin aus Manila, ein Nuklearphysiker aus Russland, ein AKW- Techniker und eine französische Linguistin. Obwohl keine Religion im Spiel ist, geht es klösterlich zu in der alten Kiesgrube im Schweizer Mittelland: Studium, Kampfsport, Gartenpflege. Diese Ausgangslage erlaubt es Hug, ebenso gegenwärtig-weltliche Fragen wie die nach der technischen, politischen, finanziellen Machbarkeit eines solchen Projekts zu thematisieren, aber in Form von (alb-)traumartigen Exkursen der Protagonist:innen auch Zukunftsszenarien zu entwerfen.

Ob es gut ausgeht, kann auch die 52-jährige Zürcherin nicht sagen: «Das kann man lesen, wie man will. Ich würde sagen tendenziell nein». Seit 2015 ist Hug als freie Autorin tätig, davor war sie Zentralsekretärin der Gewerkschaft VPOD. Für «Tiefenlager» wurde sie mit dem ZKB Schillerpreis 2022 ausgezeichnet.

Wie kommt man darauf, diese Thematik in einem Roman zu verarbeiten? 

Ich war bei einer Führung im Felslabor Mont Terri. Und dort erzählte uns einer, man sei zuversichtlich, dass man jetzt die Probleme für so ein Endlager gelöst habe, noch offen sei aber, wie man die Menschen dereinst daran erinnern könne, dass da radioaktiver Abfall vergraben ist. Und dass der Gedanke eines Ordens da immer wieder auftauche. Das fand ich grotesk – dass Menschen aus der naturwissenschaftlichen Ecke mit der Idee eines Klosters ankommen. Das hat mich nicht mehr losgelassen. Ausserdem fasziniert mich auch die Idee eines so klar geordneten Lebens inmitten von Unsicherheit und Unruhe. Und die Utopie, man sei gemeinsam klüger als allein. Ausserdem ist natürlich das «sich vorstellen, wie etwas sein könnte» ein urliterarisches Thema.

Und das grosse Thema des Projekts Tiefenlager – allerdings versucht man, diese Vorstellung wissenschaftlich zu untermauern. 

Das «sich vorstellen, wie etwas sein könnte» hat aber auch eine politische Komponente – zum Beispiel hat sich, als Fukushima passiert ist, gezeigt, dass es keinen Evakuierungsplan für Bern gibt, falls es im Mühleberg einen Unfall gäbe und der Wind Richtung Osten wehen würde. Da gibt es also auch eine gewisse Verweigerung; man will sich gar nicht vorstellen, wie das sein könnte.

«Diese Zerreissprobe, dass man einerseits fast schon hektisch etwas machen will und gleichzeitig in die Zukunft denken muss, hat mich besonders interessiert.»

Haben Fragen zu Atomenergie oder nuklearem Abfall Sie schon vorher beschäftigt? 

Ja, als Kind und Jugendliche war Atomkraft natürlich ein riesiges Thema. Wir hatten einen Atombunker in meinem Elternhaus, in der Schule gab es Übungen, was zu tun wäre bei einem Atomschlag und ich war eigentlich recht überzeugt, nicht alt zu werden, weil eh ein Atomkrieg kommt. Mit dem Ende des kalten Krieges war dann plötzlich alles weg. 

Und dann begannen Sie sich einzuarbeiten für den Roman. Wie war das?

Ich fand es wahnsinnig interessant. Die naturwissenschaftliche Seite, aber auch die institutionelle, die Frage, wer eigentlich verantwortlich ist für diesen Müll. Und welche Institution sich dieser immensen, absurden Aufgabe annehmen sollte. Schon in den Siebzigerjahren kam ein amerikanischer Kernphysiker zum Schluss, dass es eine Organisation sein muss, die dauerhafter ist als ein Staat. Und heute sind wir beim Gegenteil – die Kraftwerke sind ausgelagert bis privatisiert, sie arbeiten für die Entsorgung zusammen – das wirkt sehr provisorisch. Und so sollen sie hunderttausende Jahre in die Zukunft planen. Diese Zerreissprobe, dass man einerseits kurzfristig und fast schon hektisch etwas machen will und gleichzeitig wahnsinnig gross und in die Zukunft denken muss, wie das heute bei vielen Themen der Fall ist, hat mich besonders interessiert. Wie unmöglich das eigentlich ist und wie viele Menschen es doch immer wieder probieren und dabei tatsächlich auch gut arbeiten, das hat mich fasziniert. Da hat meine gewerkschaftliche Erfahrung sicher auch eine Rolle gespielt.

Halten Sie die Idee eines Ordens denn für geeignet? 

Kurze Antwort: Nein. Ich finde nicht, dass die Nagra ein Kloster gründen sollte. (Lacht) Aber einige Aspekte der Ordensidee finde ich sehr wichtig. Zum Beispiel ist mir bewusst geworden, dass ganz viele Elemente von Universitäten auf Orden zurückgehen: Die Lektion zum Beispiel. Die Mensa. Der Konvent. Und ich glaube, darin ist auch der Gedanke enthalten, dass die moderne Gesellschaft einen Ort braucht, der unabhängig ist von den politischen und wirtschaftlichen Mächten, damit wirklich frei gedacht werden kann. Das haben Kloster ja ein Stück weit schon angefangen, «mein Reich ist nicht von dieser Welt» und so. Eine Gegenwelt auf der Welt. Den Gedanken finde ich sehr wichtig. 

Also geht es eigentlich um rein institutionelle Abgrenzungen. 

Ja. Fragen wie: Wie schafft man es, dass die nukleare Wissenscha!s-Community wirklich unabhängig ist von der Industrie. Oder, noch simpler: Wie stellt man sicher, dass das Bundesamt für Gesundheit und die Kantone gut ausgerüstet sind, um unabhängige Strahlenforschung zu machen und Werte zu messen. Denn, und das finde ich das Gefährlichste am Ganzen: Es ist so unspektakulär. Ich halte es – als relativ gut informierte Laiin – für sehr unwahrscheinlich, dass es einen Super-GAU gibt mit Explosionen et cetera. Sondern da gibt es irgendwo ein kleines Leck, oder man hat beim Material gespart und da geraten radioaktive Isotope ins Grundwasser. Und dann dauert das eine Weile und dann steigen die Krebszahlen in einer gewissen Gegend. Dann würde es ähnlich ablaufen wie beim Asbest damals – jahrzehntelang wird prozessiert, bis irgendein Gericht bestätigt, dass ein Zusammenhang besteht, dann kommt das Versicherungsrecht, weil ja nicht ersichtlich ist, welcher Krebs durch die Strahlung entstanden ist und so weiter und so fort. Das sind literarisch völlig unattraktive Fragen, aber der Orden in meinem Roman erlaubt es, sie doch zu stellen.

Der Orden als Schnittstelle, sozusagen.

Ja, aber ich fand es auch spannend, darüber nachzudenken, wie Klöster mit Sesshaftigkeit umgehen. Es gibt solche, die sich richtiggehend einbunkern in burgen-ähnlichen Gebäuden, aber auch welche, die sagen: Wir brauchen keinen Ort und keinen Besitz, so sind wir am dauerhaftesten. Wir existieren nur in der Gemeinschaft.

Im Roman werden diese diametralen Konzepte aufgegriffen, in dem Sie dem sichersten Ort – dort, wo die radioaktiven Abfälle gelagert sind – die Innenstadt von Hongkong gegenüberstellen, wo Menschen sich treffen, die kein wirkliches Zuhause haben. Wie sind Sie darauf gekommen?

Ich machte nach einem Aufenthalt in Manila einen Zwischenhalt in Hongkong und entdeckte auf einem Spaziergang durch die Innenstadt all diese Indonesierinnen und Filipinas, die dort campen am Sonntag. Die leben als Haushaltshilfen und Pflegerinnen und haben oft nur ein kleines fensterloses Zimmerchen, oder gar keins, und um sich zu treffen, gehen sie halt raus, in den öffentlichen Raum. Das faszinierte mich, diese Gegenüberstellung.

Wie waren die Reaktionen der Menschen auf den Roman?

Etwas, was ich auch an Lesungen oft merkte, ist die Frage nach dem Verhältnis und der Kommunikation zwischen Wissenschaft und breiter Gesellschaft. Wie ist damit umzugehen, dass viele nicht genug wissen, um sich einen Reim auf wissenschaftliche Ergebnisse zu machen, und so zur Verbreitung der abstrusesten Ideen beitragen? Das war ja auch während der Corona-Krise immer wieder ein Thema.

Die Lösung?

Ich glaube immer noch, dass es möglich sein muss, das Bildungssystem so zu verbessern, dass mehr Menschen verstehen, was läuft. Und natürlich, dass die Wissenschaft einen Weg findet, ohne Dünkel mit Laien zu kommunizieren.

Wie haben Sie das in Bezug auf das Tiefenlager erlebt?

Nun, ich war zwei Mal an Informationsveranstaltungen der Nagra. Das fand ich alles interessant und verständlich so weit, es gab auch Virtual-Reality-Experiences und so, wo man so ein Tiefenlager anschauen konnte – was aber ja eigentlich wenig Aussagekraft hat, weil man so ein Lager erst planen kann, wenn man weiss, wo es genau zu liegen kommt. Diese Widersprüchlichkeit gab mir ein bisschen das Gefühl, nicht ganz ernst genommen zu werden. Ich fragte dann auch, wie sehr so ein Container im Tiefenlager denn strahle, worauf ich die Antwort bekam: Sie müssen sich das etwa so warm wie einen Föhn vorstellen. Dabei wollte ich Strahlenwerte wissen! Ich bin extrem gespannt, wie es an den Mitwirkungsgremien des Standortvorschlags sein wird, ob dort eine gemeinsame Sprache gefunden wird.

Sprache ist auch in Ihrem Roman ein wichtiger Punkt.

Das halte ich für ein essenzielles Thema unserer Zeit. Ich habe zum Beispiel gemerkt, dass ich das Konzept «Wellen» nicht wirklich verstehe. Lichtwellen, Soundwellen, Strahlungswellen. Im Physikbuch steht dann: «Ein masseloses Teilchen». Das widerspricht meinem Alltagsverstand – wenn es keine Masse hat, wie kann es dann ein Teilchen sein? Ich fragte einen befreundeten Physiker, wie er sich so etwas vorstelle und er sagte mir: Ich stelle mir das gar nicht vor. Aber ich kann damit rechnen. Je komplexer die Sachverhalte werden, umso wichtiger wird es, eine Sprache zu finden, die die Lücke zwischen Formeln und Vorstellungskraft schliesst.

Wie schätzen Sie Ihren Informationsstand ein?

Ich habe in der Vorbereitung für das Buch eine Abiturhilfe Nuklearphysik durchgeschaut, alle Übungen gemacht, und würde sagen, ich kann jetzt vielleicht etwas besser entscheiden, welcher Expertin oder welchem Experten ich eher glaube und wem nicht – aber das ist auch alles.

Glauben Sie, die Schweizer Öffentlichkeit ist genug informiert?

Nein.

Was macht Ihnen am meisten Sorgen in Bezug auf das Projekt Tiefenlager?

Dass irgendwo gespart wird auf Kosten der Sicherheit.

Ja, das wäre tatsächlich nicht gut. In Anbetracht der Bedeutung dieses Jahrhundertprojekts, das sich einreiht neben dem Schienennetz der Schweiz oder dem Bau des Gotthardtunnels, ist allerdings schwer vorstellbar, dass irgendjemand ein Interesse daran hat, die Sicherheit zu kompromittieren. Es ist eines der grossen gemeinschaftlichen Unterfangen unserer Zeit: Wissenschaft, Behörden, Politik, Stimmvolk sind alle gleichermassen involviert. Passiert etwas, betrifft es uns auch alle. Oder unsere Kinder, Kindeskinder, Generationen von Menschen, die erst geboren werden, wenn wir alle schon seit Hunderttausenden von Jahren tot sind.

Die zeitlichen Dimensionen, die Gefährlichkeit des Abfalls, die damit verbundenen Emotionen, die Hürden, alles ist riesig in diesem Projekt – aber ebenso auch die Chance, die es birgt: Gelingt es uns, dieses so lange als unlösbar geltende Problem zu lösen, gibt es Hoffnung, dass wir das auch mit den anderen grossen Herausforderungen unserer Zeit schaffen könnten.

Zu den Resultaten

Würde der Bau eines Endlagers Ihrer Meinung nach der Region wirtschaftlich eher Schaden oder Nutzen bringen?

Repräsentative Meinungsumfragen
aus den Jahren:
  • 2009
  • 2015
  • 2021
Eindeutig Nutzen
2009
2015
2021
8%
6%
3%











Eindeutig Schaden
2009
2015
2021
17%
12%
16%











Eher Nutzen
2009
2015
2021
32%
37%
30%











Eher Schaden
2009
2015
2021
43%
45%
43%











«Liebe Menschheit in einer Million Jahren»

Was möchten Sie der Nachwelt mitteilen? 

Ob es das Rezept ist für die perfekte Tomatensauce, die Erklärung Ihrer unsterblichen Liebe oder eine Beichte – genau so sicher wie den Atommüll wird die Nagra Ihre Botschaft an die Menschheit der Zukunft verwahren. In hundert Jahren, bevor das Tiefenlager verschlossen wird, werden diese Vermächtnisse ein einziges Mal öffentlich gemacht in einer Ausstellung (Ihre Nachkommen, die erst noch geboren werden, sollten also unbedingt ein Save the Date einrichten). Wie das genau funktioniert? 

Nach einer kurzen Prüfung speichern wir die Daten auf dem Interplanetary File Protocol, der Basis für das Web von morgen. Entspricht Ihr Dokument den Richtlinien von nagra, erhalten Sie einen Hash-Link, mit dem Sie den Inhalt jederzeit online abrufen können. Ähnlich wie bei einer Blockchain können die hochgeladenen Daten nicht verändert werden, aber dank eines Versionierungssystems können Aktualisierungen hinzugefügt werden, während die gesamte Geschichte als intelligenter Vertrag dokumentiert wird.