Risiko – eine Definition
Was ist Risiko? Gibt es den richtigen Weg, damit umzugehen? Oder sind Risiken letztlich sowieso nur Illusionen? Ein Versuch, Ordnung ins Ungewisse zu bringen.

Von Sebastian Sele
Die Statistik ist eindeutig: Nie ist unser Leben so riskant wie bei unserer Geburt. Bis zum letzten Atemzug. Dazwischen spielen wir Fussball auf Quartierstrassen, auf denen uns nur ein Tempo-Schild vor dem/r nächsten Raser:in schützt. Wir geben unser Einkommen in fremde Hände, steigen in fliegende Maschinen. Wir rauchen, trinken, geniessen. Und manche von uns stürzen sich aus freien Stücken mit nichts als einem Fallschirm auf dem Rücken von Felsvorsprüngen. Ganz schön mutig. Oder übermütig?
Wir lieben das Risiko – und wir fürchten nichts mehr. Oder wie der Philosoph Blaise Pascal einst schrieb: «Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.»
Doch was ist das eigentlich, ein Risiko? Was als wie riskant gilt, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Von Land zu Land. Von Lebensphase zu Lebensphase. «Risiko ist die Auswirkung von Unsicherheit auf Ziele», heisst es in der ISO-Norm 31000, die sich mit Risiken in Organisationen beschäftigt. Wir wollen etwas – und irgendetwas anderes stellt sich dem in den Weg. Eine Gefahr. Womöglich. Womöglich aber auch nicht. Wie behält man angesichts dieser Ungewissheit den Durchblick?
Sei man mit solchen Ungewissheiten konfrontiert, müsse man rational bleiben und abwägen, sagt der ehemalige Skirennfahrer und Basejumper Marco Büchel. Es gebe bei diesen Entscheidungen keine absolute Sicherheit, nur Wahrscheinlichkeiten, ergänzt eine Sicherheitsberaterin, die seit den 1990er-Jahren in fast allen Kriegsgebieten der Welt im Einsatz war. Und Gerd Gigerenzer, eine Ikone der Risikopsychologie, ist wiederum ein Verfechter des Bauchgefühls.
Was die drei eint: Alle schwören auf den Wert der Erfahrung.
Wir tendieren dazu, Risiken zu quantifizieren. Wir berechnen Wahrscheinlichkeiten, erstellen Modelle und Szenarien. Wir versichern uns gegen das Wahrscheinliche (oft) und gegen das Unwahrscheinliche (weniger oft). Wir wollen finanziell abgesichert sein. Doch wie viel ist ein Weltuntergang wert?
Evolutionär wollen wir nichts mehr, als überleben. Darin scheinen wir gar nicht so schlecht zu sein. 300’000 Jahre hat die Menschheit bereits auf dem Buckel. Doch selbst dieser Erfolg ist relativ. Haie existieren schon seit geschätzt 400 Millionen Jahren, Kängurus seit 25 Millionen und Galapagos-Schildkröten seit 3 Millionen Jahren.
Vielleicht ist für uns auch nach 300’075 Jahren Schluss. Lord Martin Rees – Kosmologe, Astrophysiker und Gründer des Centre for the Study of Existential Risk der Universität Cambridge – warnte zu Beginn dieses Jahrhunderts davor, dass wir bis 2100 mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit aussterben werden. Nicht etwa durch Asteroiden, Sonnenstürme oder Angriffe Ausserirdischer, sondern weil wir uns selbst zugrunde richten.
«Wir sind die erste Spezies, die die Macht hat, den ganzen Planeten zu verändern», sagt er und warnt vor menschengemachten Pandemien, vor der Abhängigkeit von autonomen Technologien und vor dem Populismus.
Rees setzt fort, was einer der berühmtesten Risikoforscher angestossen hat: 1986 veröffentlichte der Soziologe Ulrich Beck sein Buch «Risikogesellschaft» – nur wenige Monate nach Tschernobyl, der grössten nuklearen Katastrophe in der Geschichte der Menschheit. Durch die Globalisierung und Individualisierung, so Beck, würden wir unsere Risiken selbst erschaffen, die «Katastrophen, die wir noch nicht erfahren haben und die wir auf keinen Fall erfahren dürfen». Diese hängen wie ein Damoklesschwert über uns und leiten unser Handeln. Beck schrieb damals, dass solche menschengemachten Gefahren ein gesellschaftliches Umdenken erfordern und uns dazu treiben müssen, Verantwortung zu übernehmen.
Rund vierzig Jahre später kennt jede:r Covid-19, ChatGPT rüttelt an Gewissheiten der Arbeitswelt, autonome Waffensysteme werden einsatzfähig, die Erderwärmung hat die 1,5-Grad-Grenze überschritten und noch immer bekriegen sich Atommächte. Das Einzige, was noch sicher scheint, ist die Unsicherheit.
«Was mich deprimiert, ist die wachsende Diskrepanz zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie sein könnte», sagt Lord Martin Rees. Ganz im Sinne Ulrich Becks appelliert er an Regierungen, die existenziellen Risiken ernst zu nehmen – hält aber auch fest, dass das Leben vermutlich nie so sicher war wie im heutigen Europa. Die meisten Deutschen, Brit:innen und Schweizer:innen führen ein Leben, ohne sich extremen Gefahren aussetzen zu müssen.
«Merkwürdig, in der Tat, dass womöglich keine Epoche je ‹sicherer› war als unsere und wir dennoch alle unter einer wachsenden, unermesslichen Angst vor jedem potenziellen Ereignis leiden», schrieb die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle in ihrem Buch «Lob des Risikos». Aus der Risikogesellschaft wird eine Anxiety-Gesellschaft. Wir glauben, über dem Risiko zu stehen und es kontrollieren zu können und zu müssen. «Dieses von uns angesteuerte Null-Risiko ist verhängnisvoll», warnte Dufourmantelle. «Es enthebt das Subjekt seiner Verantwortung.»
Verantwortung – sie gehört zum Risiko. In früheren Gesellschaften galt jeder Schicksalsschlag als Teil eines göttlichen Plans. Heute, in unserer individualisierten Gesellschaft und neoliberalen Ordnung, ist jeder sein eigener Gott. Sie, liebe Leser:innen, tragen die Verantwortung. Und ich. Oder sind es doch nur unsere Versicherungen?
Die Philosophin Dufourmantelle sah sich in ihrem letzten Moment in der Verantwortung. Als sie zwei Kinder im Mittelmeer ertrinken sah, stürzte sie in die Fluten, rettete die beiden – und fand selbst den Tod. Jeder Mensch hat das Potenzial, ein:e Held:in zu werden. Doch manche Held:innen sterben nicht in den Fluten des Meeres, sondern leben einfach still vor sich hin.
In gewissem Sinne können die rund 2500 Einwohner:innen von Stadel, einem kleinen Dorf im Norden des Kantons Zürich, als Held:innen gesehen werden. Unter ihnen soll das Endlager für den Atommüll entstehen, den die Schweizer:innen seit der Eröffnung des AKW Beznau I im Juni 1969 kollektiv verursacht haben. Niemand will diesen Müll vor der eigenen Haustür – doch irgendwo muss er hin. Das Risiko einer Katastrophe, so sagen die Expert:innen der Nagra, sei nirgendwo geringer als in Stadel. Es gehe darum, ein Konzept zu entwickeln, das robust genug ist, allen möglichen Gefahren der nächsten Jahrtausende zu trotzen – selbst sogenannten Schwarzen-Schwan-Katastrophen also, die unsere heutige Vorstellungskraft übersteigen.
Doch: Ist «wahrscheinlich sicher» sicher genug? Um diese Frage zu beantworten, sagt Matthias Holenstein, Geschäftsführer der Stiftung Risiko-Dialog, müsse sich die Gesellschaft mit zwei Punkten auseinandersetzen: Was genau sind die Risiken? Und wo ziehen wir als Kollektiv die rote Linie der Gefahr, die wir nicht überschreiten wollen?
Fast ein halbes Jahrhundert ist seit Tschernobyl und Ulrich Becks «Risikogesellschaft» vergangen. Das Internet hat die Regeln unseres Zusammenlebens verschoben. 9/11, Covid und Künstliche Intelligenz haben an unseren Gewissheiten gerüttelt. Konflikte und Krisen prasseln in einem medialen Dauerregen auf uns ein. Die Atomkraft wurde als Übel unserer Zeit identifiziert – und angesichts des Klimawandels wieder auf den Thron gehoben.
Weder der Atommüll noch ein AKW-Unfall landet in den Top Ten der grössten Risiken für die Schweiz, die das Bundesamt für Bevölkerungsschutz auflistet. Bezieht man die Wahrscheinlichkeit der Risiken in die Betrachtung ein, dann landen laut Bund eine Strommangellage, eine Influenza-Pandemie oder der Ausfall des Mobilfunknetzes zuoberst auf dem Podest. Eine winterliche Strommangellage würde mehr als 180 Milliarden Franken kosten.
Die erste Dimension des Risikos, die technische, lasse sich gut berechnen, sagt Matthias Holenstein von der Stiftung Risiko-Dialog. Die eigentliche Kunst bestehe darin, auch die zweite Dimension abzubilden – die menschliche: Wie wirkt das Risiko auf mich? Wie gehe ich damit um?
«Das Risiko ist eine altmodische Romantik für Erwachsene», schreibt die Philosophin Anne Dufourmantelle in ihrem Lob des Risikos. Man müsse der Gefahr ins Auge sehen können, sich bewusst sein, dass man sich von Schmerz, Katastrophe und Trauer erholen kann. Denn: «Wir werden nicht im Voraus erlöst.»
Wir lieben das Risiko – und wir fürchten nichts mehr.
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