Das Jahrhundertmagazin

Wie entwickle ich Risikokompetenz?

Ein paar Gedanken und Anregungen zum Umgang mit grossen und kleinen Bedrohungen.

Sie haben es spätestens beim Lesen dieses Heftes gemerkt: Auch wenn wir uns die grösste Mühe geben und uns nach allen Seiten absichern – gegen gewisse Risiken sind wir auch in der Schweiz nicht gefeit. Wie wir damit umgehen können, sagt uns Matthias Holenstein, Geschäftsführer der Stiftung Risiko-Dialog.

«Zuerst möchte ich festhalten: Risiken sind per se nichts Schlechtes. Sie gehören zum Leben und sind Motoren für Entwicklung, Veränderung und Innovation.

  • Unsere Wahrnehmung ist verzerrt: Risiken werden oft über- oder unterschätzt. Unterschätzt werden zum Beispiel Herz-Kreislauf-Probleme. Dabei wäre diesen ja mit regelmässiger Bewegung, mit Sport, guter Ernährung und genug Schlaf recht einfach entgegenzuwirken.

  • Wir überschätzen hingegen jene Risiken, die beispielsweise gerade Schlagzeilen machen. Viele Katastrophenszenarien treten mit ziemlich geringer Wahrscheinlichkeit ein, sind bei uns aber überproportional präsent. Das Risiko der schlechten Ernährung – also etwa die Maxi-Packung Chips zum Fernsehabend auf dem Sofa – ist meist realer und direkter.

  • Es ist völlig normal, sich zuerst mit seinen Alltagsproblemen und -risiken zu beschäftigen und nicht mit einer drohenden Strommangellage. Hier sind erst mal Fachleute gefragt. Es darf aber nicht dazu führen, dass wir uns einfach zurücklehnen. Wir alle können etwas beitragen.

  • Das führt zur wichtigsten Erkenntnis: Egal wie gross das Risiko – wir sind nicht machtlos. Wir können immer etwas tun.

  • Was das heisst? Dass man auch gigantischen, globalen Themen aktiv begegnen kann. Wir können uns gegen Krisen stärken – und zwar gemeinsam. Das meint zwei Dinge. Erstens: Es braucht eine Kooperation von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Zweitens: Wir können uns in unserem Umfeld – in der Nachbarschaft, im Freundeskreis, im Quartier – unterstützen, um solche Ereignisse gemeinsam zu tragen. Untersuchungen zu den Buschfeuern in Australien oder den Tornados in den USA haben gezeigt: Wenn eine Gefahr grösser wird, verhalten sich die Menschen ganz lange sozial.

  • Bei der Risikokompetenz unterscheiden wir drei Aspekte: das Wissen zu Risiken und was wir tun können, die Fähigkeit, beispielsweise mit Belastungen oder Gefahren umzugehen, sowie Handlung und letztlich Handlungsbereitschaft: Ich sorge vor oder ich packe an, wenn etwas passiert.

  • Im Zuge dieses Vorausschauens erlangen wir irgendwann «Agilitätskompetenz». Heisst: Hab Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten – aber sei auch darauf eingestellt, dass manchmal etwas nicht funktioniert. Dass man eine Stelle nicht bekommt, dass eine Liebe zerbricht, dass das Leben nicht immer nur gut zu einem sein wird. Die Erfahrung zeigt: Es geht immer weiter im Leben. Das mag im Einzelnen zynisch und banal klingen, aber wer Erfahrung mit Krisen hat, kann besser damit umgehen.

  • Wenn man einen Dialog zu einem komplexen gesellschaftlichen Thema wie dem Tiefenlager aufbaut, geht es zuerst einmal darum, spezifisches Wissen dort zu erweitern, wo dieses gebraucht wird. Die verantwortlichen Institutionen müssen die Perspektive der Menschen und ihre Emotionen berücksichtigen. Und dann gilt es, wirklich ins Gespräch zu kommen: Welches Wissen fehlt euch? Was sind eure Anliegen? Was kann am Projekt eventuell noch angepasst werden? Wenn man das macht, steigt das Vertrauen.

  • Es braucht eine gewisse Rationalität im Umgang mit Risiken. Es gibt Fakten, und diese Fakten muss man kennen. Aber gleichzeitig ist ein emotionaler Zugang eben auch legitim.

  • Zum Umgang mit Risiken gehört auch ein Abwägen: Man muss sich alle Vor- und Nachteile, alle Risiken und Chancen vor Augen halten, ehe man entscheidet. Im Privatleben ist es einfacher, Risiken aus dem Weg zu gehen. Man lehnt gewisse einfach ab: Mit Bungee-Jumping will ich nichts zu tun haben. Aber als Gesellschaft geht das nicht. Wir können uns Themen wie Atommüll oder Klimaschutz nicht verschliessen. Also wir könnten schon, aber die Folgen wären verheerend.

  • In der Schweiz sind wir generell bereits sehr kompetent, mit Krisen umzugehen. Aber eben auch recht gut im Verdrängen – etwa was den Krieg, die Effekte des Klimawandels oder KI anbelangt. Wir haben vielfach immer noch die Einstellung, dass uns das alles nichts anhaben kann. Da trübt auch die stabile Entwicklung der letzten Jahrzehnte unseren Blick.

  • Wo wir wirklich aufpassen müssen: Dass die junge Generation nicht in eine Art Zukunftsdepression verfällt und denkt, es sei alles nur noch schlecht. Darum wäre es wichtig, dass wir an den Schulen, in der Freizeit, in der Familie viel mehr über die Herausforderungen der Zukunft sprechen. Dass wir gemeinsam vorausschauen und Zukunftsfähigkeiten trainieren.»
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