«Wir überschätzen Chancen und unterschätzen Gefahren»
Vom Homo periculans zum Homo oeconomicus: Wirtschaftspsychologe Christian Fichter über das Verhältnis von Wirtschaft und Risiko, die Bedeutung des Bauchgefühls, die Gefahren von KI und berühmte Hasardeur:innen.

Interview: David Fehr & Adrian Schräder
Herr Fichter, warum gehören Wirtschaft und Risiko zusammen?
Wirtschaft ohne Risiko funktioniert nicht. Im Prinzip geht es beim Wirtschaften um das Herstellen und Tauschen von knappen Ressourcen. Nehmen wir das Beispiel Nachrichten. Wenn meine Nachrichten niemanden interessieren, riskiere ich den Konkurs. Und auf der anderen Seite: Wenn ich als Konsument:in Nachrichten konsumiere, die falsch oder irrelevant sind, riskiere ich, die Welt nicht richtig zu verstehen.
Wie definieren Sie Risiko?
Risiko ist die Erfolgswahrscheinlichkeit meines Tätigseins. Leider ist es so, dass wir mit unserem Tätigsein stets in Konkurrenz stehen mit dem unserer Mitmenschen. Wer nichts tut, wer nichts wagt, der nicht gewinnt. Allerdings gilt auch: Wer zu viel wagt, gewinnt auch nicht. Oder, um es mit Blaise Pascal auszudrücken: «Alles Unglück der Menschen kommt daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.»
Wirtschaften bedeutet also Risiko und Konkurrenz. Viele behaupten, es bedeute auch stetiges Wachstum. Was denken Sie?
Der Wachstumsbegriff wird unterschiedlich verstanden, je nach politischer Ideologie, die man vertritt. Das ist schade, denn Wachstum sollte meines Erachtens als Weiterentwicklung und Anpassung verstanden werden. Wir passen uns den veränderten Umweltbedingungen an und werden damit schlauer, gesünder, zufriedener, besser. Von so verstandenem Wachstum hat die Menschheit in den letzten 200 Jahren ziemlich viel profitiert, wie ich finde. Natürlich ist nicht alles Neue gut. Aber wer wirklich das Wachstum stoppen oder gar umkehren will, der weiss nicht, unter welchen Bedingungen unsere Vorfahren lebten. Oder möchten Sie zurück in eine Zeit ohne Penicillin und zuverlässige Nahrungsversorgung?
Sie schreiben auf Ihrer Website, Wirtschaft bestehe zu fünfzig Prozent aus Psychologie. Was meinen Sie damit?
Schon unsere Grosseltern wussten, dass Psychologie in der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Das wollte ich mit dem Spruch klarstellen. Heute wird es ja immer so dargestellt, als würde man erst dank Hirnscannern verstehen, wie der Mensch funktioniert. Das ist natürlich falsch.
Wie kommen Sie auf den Wert von fünfzig Prozent?
So genau kann man das natürlich nicht sagen. Ich will damit einfach ausdrücken, dass es viel ist. Viel mehr, als wir normalerweise annehmen. Das ist ja das Faszinierende an der Psychologie: Sie ist überall, wo Menschen sind, aber sie ist normalerweise unsichtbar. Wäre ja auch schrecklich unpraktisch, wenn wir uns ständig beim Funktionieren beobachten und analysieren müssten.
Heisst das auch, das Bauchgefühl ist genauso wichtig wie Zahlen und Fakten?
Achtung: Psychologie ist nicht nur Bauchgefühl, das wird gern verwechselt. Im Gegenteil: Die Psychologie zeigt auch, wie wir Zahlen und Fakten verarbeiten. Wir sprechen dabei von Zwei-Prozess-Modellen oder auch von System 1 und System 2. System 1 umfasst Reflexe und das Bauchgefühl und System 2 langsames Denken und rationales Problemlösen. Aber, um Ihre Frage zu beantworten: Ja, das Bauchgefühl, oder eben System 1, ist oft genauso wichtig oder sogar noch wichtiger als Zahlen und Fakten.

Ist das im Sinne des Unternehmertums richtig und gut?
Ha, gute Frage! Ich würde sagen nein. Rechnen und sorgfältig abwägen ist besser als fühlen und schnelles Entscheiden per Handgelenk mal Pi. Aber manchmal fehlt es halt an Zeit, Motivation, Wissen oder einfach an Wichtigkeit. Dann hat das Bauchgefühl seinen Platz.
Inwiefern kann das Gehirn beziehungsweise evolutionär antrainiertes Verhalten für Risikoentscheidungen im Bereich Wirtschaft verantwortlich gemacht werden?
Weitgehend. Unser Gehirn ist auf schnelle, intuitive Entscheidungen in unsicheren Situationen trainiert – das war überlebenswichtig, als wir noch Jäger:innen und Sammler:innen waren. Diese Mechanismen wirken heute noch, im Privatleben ebenso wie im Unternehmen. Deshalb überschätzen wir Chancen, unterschätzen Gefahren oder lassen uns von Verlustangst leiten.
Wie sieht das Risikoverhalten des idealtypischen Unternehmers aus?
Dazu gibt es sehr viel Forschung. Interessanterweise zeigt diese, dass es für Unternehmensgründer:innen hilfreich ist, wenn sie eher risikofreudig sind. Später aber, wenn das Unternehmen läuft, ist das eher schädlich – dann sind Typen gefragt, die eine gesunde Portion Risikovermeidung aufweisen.
Wie gehen erfolgreiche Unternehmer:innen mit Risiko und Ungewissheit um?
Sie sind in erster Linie gut darin, Risiken und Ungewissheiten zu minimieren – aber sie nicht so weit zu vermeiden, dass kein Wagnis, kein kreatives Unternehmertum mehr möglich ist.
Elon Musk gilt als Unternehmer, der das Risiko ausreizt wie kaum ein anderer. Verkörpert er die ultimative Form des Unternehmers?
Elon Musk ist wahrscheinlich ziemlich genial, aber in seiner aktuellen Lebensphase leider auch ein Hasardeur. Ich kann keinem/r Unternehmer:in empfehlen, sich so wie Musk zu verhalten, das wäre verheerend. Es gibt alleine aus Wahrscheinlichkeitsgründen immer mal jemanden, der viel Talent, Mut und Glück hat, was dann zu so viel Ruhm und Reichtum führt, dass in der Folge ein Scheitern unwahrscheinlich wird oder weniger ins Gewicht fällt. Musk ist so einer.
Wie sehen Sie als Wirtschaftspsychologe den Einsatz von Künstlicher Intelligenz? Verringert KI das Risiko für Unternehmen?
Ganz im Gegenteil, sie erhöht das Risiko sogar. KI ist die wichtigste Erfindung, die die Menschen jemals gemacht haben. Wir werden uns noch wundern, welche Folgen KI haben wird. Im Guten wie im Schlechten. Im Privaten, bei der Arbeit oder für Unternehmen.
Warum erhöht sie das Risiko?
Auf Unternehmensebene, weil damit massive Anpassungserfordernisse verbunden sind. Nicht alle werden diese gleich gut meistern. Und dann sehe ich natürlich eine ganz klare Bedrohung für die Unternehmen, die sich durch volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzungen ergeben werden, weil KI unsere Volkswirtschaft und unsere Gesellschaft umwälzen wird.
Christian Fichter ist Leiter des Instituts für Wirtschaftspsychologie an der Kalaidos Fachhochschule in Zürich.
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